UNESCO-KOMMISSION - Immaterielles
Kulturerbe - English
Was verbindet die Schwälmer
Weißstickerei mit der Berliner Technokultur und was bitteschön ist
Viez?
Allesamt sind "Schützenswertes Immaterielles
Kulturerbe" in Deutschland
BERLIN. Wie die
Kulturministerkonferenz, der Beauftragten der Bundesregierung für
Kultur und Medien und der Deutschen UNESCO-Kommission am 13. März
2024 bekanntgaben, wurden sechs kreative, inklusive und innovative
Kulturformen als Neuzugänge auf Deutschlands Liste des Bundesweiten
Verzeichnises des Immateriellen Kulturerbes gesetzt. Neu sind die
Aufnahme der Berliner Technokultur, das Bergsteigen in Sachsen, die
Finsterwalder Sangestradition, der Kirchseeoner Perchtenlauf, die
Schwälmer Weißstickerei und der Viez. Allessamt kulturelle
Ereignisse, die nach Brauchtumspflege ausgeübt werden und sich im
Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten in die lebendigen Rituale der
Menschen in den jeweiligen Regionen eingebürgert haben. Bundesweit
haben wir damit 150 Einträge für das schützenswerte Immaterielle
Kulturerbe in Deutschland. Die
UNESCO unterstützt seit mehr als 20 Jahren die Weitergabe, die
Dokumentation und den Erhalt lebendiger Traditionen aus den Bereichen
Tanz, Theater, Musik, Naturwissen, von Handwerkstechniken und auch
von mündlichen Überlieferungen.
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Perchtenläufer - Pressefotoarchiv: Helga Waess (2020) |
Der Vorsitzende der
Kulturministerkonferenz 2024 und Hessische Kulturminister Timon
Gremmels sagte gegenüber der Presse
„Kultur wird tagtäglich in
Deutschland gelebt, das zeigen wieder einmal mehr die sechs
Neuaufnahmen in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen
Kulturerbes. Die jüngsten Einträge unterstreichen die Vielfalt und
die Lebendigkeit kultureller Praktiken. Die Liste unseres
Immateriellen Erbes wächst somit weiter und damit auch das
Bekenntnis, Traditionen zu pflegen und langfristig für die nächsten
Generationen zu bewahren.“
Kulturstaatsministerin Claudia Roth
betonte:
„Die Liste des Immateriellen
Kulturerbes ist auch in diesem Jahr wieder durch wichtige
Kulturformen ergänzt worden. Die Neuzugänge veranschaulichen nicht
nur die regionale Vielfalt und thematische Breite der gelebten Kultur
in Deutschland, sie stehen auch für einen erweiterten Kulturbegriff,
der sich gegen die absurde Trennung von E- und U-Kultur wendet.
Bezeichnend ist dafür die Aufnahme der Berliner Technokultur. Seit
mehr als 30 Jahren ist Techno ein wichtiger Sound unserer Hauptstadt,
auch für viele Menschen, die aus Europa und der ganzen Welt nach
Berlin kommen. Die Berliner Technokultur steht seit vielen Jahren für
Werte wie Vielfalt, Respekt und Weltoffenheit. Ob Subkultur oder
traditionelle Handwerkstechnik, all das gehört zum kulturellen
Reichtum unseres Landes, das unterstreicht diese Aufnahme in die
Liste des Immateriellen Kulturerbes.“
Christoph Wulf, Vorsitzender des
Fachkomitees Immaterielles Kulturerbe in Deutschland und
Vizepräsident der Deutschen UNESCO-Kommission, erklärte:
„Die Neuaufnahmen zeigen die ganze
Bandbreite des kulturellen Lebens in Deutschland. Junge Kultur gehört
genauso dazu wie jahrhundertealtes Handwerk, urbanes Erbe ebenso wie
ländliches. Tradition und Wandel gehen hier Hand in Hand. Diese
Vielfalt macht unsere Gesellschaft aus. Unser gelebtes Erbe stiftet
Gemeinschaft und bringt Menschen Tag für Tag zusammen.“
Sechs lebendige Traditionen, die
Ausdruck des regionalen Lebenstils in Deutschland sind, wurden ins
Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulterbes aufgenommen:
1. Bergsteigen in Sachsen
Immer noch ein beliebter Sport, der
Jung und Alt zusammenbringt, ist das Bergsteigen. Etwas besonderes
erlebt man hier in Sachsen:
Diese besondere Kulturübung ist in der
Sächsischen Schweiz und im Zittauer Gebirge (Sachsen) verbreitet -
und auch darüber hinaus. Sie wird ganzjährig ausgeübt und gehört
in den Bereich “Wissen und Bräuche in Bezug auf die Natur und das
Universum“.
Das Bergsteigen in Sachsen
bezeichnet eine Praxis, welche die regionalen geologischen Bedingungen
des Sandsteins einbezieht, der spezifische Techniken und Regeln des
Kletterns und das Wissen um die naturräumlichen und
biologischen Gegebenheiten voraussetzt und vermittelt.
2. Finsterwalder Sangestradition
Ausgehend von einem drei- bis
vierstimmigen A-cappella-Gesang hat sich die Finsterwalder
Sangestradition entwickelt. In Finsterwalde (Brandenburg) und in den
umliegenden Ortschaften wird ganzjährig gesungen.
Ausgehend von dem 1899 entstandenen
Couplet des Komponisten Wilhelm Wolff „Wir sind die Sänger von
Finsterwalde", entwickelte sich in Finsterwalde eine
identitätsstiftende Gesangstradition, die Chöre und Musikgruppen
stetig weiter entwickeln.
3. Kirchseeoner Perchtenlauf (Foto oben)
Der Perchtenlauf in Kirchseeon
(Bayern) ist eine ortstypische Ausgestaltung des „Perchtenlaufens“,
das auch an anderen Orten zur Winterzeit ausgeübt wird. Die Perchten
gelten in Kirchseeon als Glücksbringer, die in den jeweiligen
Gemeinden umherziehen und das neue Jahr einläuten.
Der Kirchseeoner Perchtenlauf wird
innerhalb der Gemeinde Kirchseeon aufgeführt, bei dem die Perchten
an den Donnerstagen, Samstagen und Sonntagen im Advent sowie in der
Perchtennacht vom 5. auf den 6. Januar umherziehen, um das neue Jahr
einzuläuten. Kirchseeoner Perchten gelten als Glücksbringer, indem
sie mit ihren Ritualen symbolisch die Geister der Dunkelheit bannen
und die Geister des Neubeginns wecken.
4. Schwälmer Weißstickerei
(Hessenstickerei)
Die Schwälmer Weißstickerei ist
eine traditionelle Handwerkstechnik, die in der Region Schwalm in
Hessen sowie darüber hinaus praktiziert wird und sich aus einer
Kombination verschiedener Techniken zusammensetzt.
Bei der Schwälmer Weißstickerei wird
mit weißem Garn auf dicht gewebtem Leinen verschiedene Motive
gestickt. Sie setzt sich zusammen aus einer Kombination verschiedener
Techniken, unter anderem Oberflächen-, Durchbruch- und
Ausschnittstickerei. Viele unterschiedliche Motive stilisierter
Formen wie Herz, Tulpe, Körbchen, Kreis und Vogel werden zu
Konturenmustern arrangiert. Die Räume zwischen den Motiven werden
dicht gefüllt mit Ranken, kleinen Blättern und Blüten. Immer
wieder neue Konturenmuster, die riesige Auswahl an äußerst
vielfältigen Flächenfüllmustern und die breite Palette
unterschiedlicher Randgestaltungen bieten unbegrenzte Möglichkeiten
der Gestaltung.
5. Technokultur in Berlin
Technokultur ist eine Subkultur rund
um den Musikstil Techno, eine Form der elektronischen Tanzmusik, die
seit Mitte bis Ende der 1980er Jahre weite Teile der Stadt Berlin
geprägt hat. Kern der Technokultur sind die Musik und die
dazugehörigen Tanzveranstaltungen.“
„Techno basiert auf verschiedene
musikalische Entwicklungen. Neben der Musik umfasst die Technokultur
unter anderem auch Mode und Veranstaltungen wie zum Beispiel Raves,
also Tanzveranstaltungen mit elektronischer Musik. Musikalisch
zeichnet sich Techno durch elektronische Töne aus, die in rhythmisch
monotoner Struktur aneinandergereiht werden. Kennzeichnend sind die
sehr große Modulierbarkeit und Bandbreite an Frequenzen. DJs leiten
dabei durch synchronisierte Übergänge, den sogenannten „Mix“,
von einem Stück zum nächsten über.
6. Viez
Viez ist Wein, der aus kultivierten
Apfel-, Birnen- und Quittensorten gekeltert wird. Dabei stärkt der
Anbau die Biodiversität und prägt das Bild der Kulturlandschaft im
moselfränkischen Sprachraum.
Die Weinbereitung aus Äpfeln, Birnen
oder Quitten, die damit verbundenen kulturellen Praktiken und
Kenntnisse über Zucht, Anbau und Weiterverarbeitung der Obstsorten
werden in Deutschland seit Jahrhunderten weitergegeben. Das zur
Herstellung des Viezes erforderliche Wissen und Können beinhaltet
unter anderem spezifische Kenntnisse rund um die Obstsorten sowie
gärtnerische Maßnahmen, die zu deren Aufzucht erforderlich sind.
Dies beinhaltet unter anderem sachgerechtes Pflanzen und nachhaltige
Pflege der Bäume, Anlage von Baumschulen sowie Lagerung der Früchte.
Während Kleinproduzentinnen und Kleinproduzenten bei der Herstellung
von Viez in der Regel auf eine manuelle Spindel- und Hebelpresse
zurückgreifen, kommen für größerer Volumina hydraulische Pressen
zum Einsatz.
Bis zum 18. Jahrhundert waren die
Klöster maßgeblich Träger des Wissens um Optimierung von
Fruchterträgen und Gärverfahren. Das Aufblühen
naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und die damit einhergehende
rapide Entwicklung ingenieurtechnischen Wissens führten auch zu
einer zunehmenden Steuerung landwirtschaftlicher Prozesse auf
Grundlage neu gewonnener agrartheoretischer Kenntnisse. Im Bereich
der Viezproduktion bedeutete dies zum einen die gezielte Entwicklung
und Steigerung des Obstanbaus durch Anlage von Baumschulen sowie
Auswahl und Zucht insbesondere geeigneter Obstsorten, zum anderen die
Verbesserung der Kelter- und Kellertechnik im Hinblick auf effiziente
und hygienische Verfahren.
Bundesweites Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes - Hintergrundwissen
Das Übereinkommen zur Erhaltung des
Immateriellen Kulturerbes wurde 2003 von der Generalkonferenz der
UNESCO in Paris verabschiedet. Bis heute haben 182 Staaten den
Vertrag ratifiziert. Deutschland ist seit 2013 Vertragspartei.
Einzelne Elemente aus den nationalen
Verzeichnissen der Vertragsstaaten können für eine von drei
internationalen UNESCO-Listen des Immateriellen Kulturerbes
vorgeschlagen werden. Dazu gehören etwa die Saunakultur in Finnland,
der Reggae aus Jamaika und das Hebammenwesen, das auf Vorschlag
mehrerer Staaten, darunter Deutschland, im vergangenen Dezember zum
Immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt wurde.