„55 Jahre in der Dunkelkammer“. Eine Ausstellung in der Galerie Stephen Hoffman in München
In den letzten 55 Jahren hat Jerry N. Uelsmann durch seine Negative-in-Negativ-Arbeiten die Möglichkeiten der digitalen Photographie und Bildbearbeitung lange vor ihrer Entstehung mit seiner eigenen analogen Technik in der Dunkelkammer vorweggenommen und perfektioniert.
Vor unseren Augen entstehen
'Foto-Skulpturen', die dreidimensional im Bild zu schweben scheinen –
wie gerade fotografiert. Beim Durchwandern der Ausstellung „55
Jahre in der Dunkelkammer“ in der Galerie Stephen Hoffman in
München stellt sich einmal mehr die seit Beginn der Fotografie im
Raum stehende Frage nach Abbild und Wahrheit? War das Abwenden von
der Gegenständlichen Malerei nicht auch durch die Erfindung der
Fotografie hervorgerufen worden, weil diese im 19. Jahrhundert neue
Technik die Natur wiedergab und damit die Realität so gut wie kein
Maler darzustellen wusste?
Die Dunkelkammer als Forschungslabor
Der 80-Jährige Fotokünstler Jerry
Uelsmann bedient sich der „Dunkelkammer als visuelles
Forschungslabor“. Bereits sein Studium der Fotografie, das er 1953
in Detroiter Rochester Institute of Technology begann, lehrte den
damals 19-jährigen, dass das Original eines Fotos im Labor entsteht.
Von der Auswahl des Motivs, bis zur Entwicklung des Fotos hatte der
Fotograf viele Möglichkeiten die Wahrheit in einen neuen
Sinnzusammenhang zu stellen und seine Vision von der Realität des
Gesehenen wiederzugeben.
Uelsmann versteht bis heute seine
Dunkelkammer als „visuelles Forschungslabor“. Er schafft in
seinen Unikaten eine fotografische Realität, die so rein gar nichts
mit Wahrheit zu tun hat. Und weil seine surrealistischen Fotos in
ihrer poetischen Erzählweise von dem real Gesehenem und den zuvor
wirklich fotografierten Artefakten der Wirklichkeit stark abweichen,
empfindet er sie als „nicht-benennbar“ und nennt sie „untitled“.
Ein Foto ist kein Spiegel der Realität
Ein Foto zeigt seinem Betrachter
eigentlich reale Orte, Räume oder Menschen, weshalb er glaubt einen
Spiegel der Realität zu sehen. Aber allein die Auswahl des Motivs,
die Technik, die Beleuchtung und der Blickwinkel kann Reales anders
erscheinen lassen.
Jerry Uelsmann experimentiert so lange
mit teils bis zu sieben Negativen gleichzeitig, dass der Betrachter
hinterher eine so gar nicht mögliche, eine surreale Weltsicht vor
Augen hat. Schwerkraft, Naturgesetze, Unten, Oben, Materie, alles
wird im Labor verändert, aufgehoben, durchlässig, unfassbar. Jerry
Uelsmann macht das Unmögliche durch seine fotografische Realität
glaubhaft. Der Betrachter lässt sich ein, wird in poetischer
Erzählweise angesprochen und bekommt neue Sichtweisen. Er sieht
erträumte Realitäten beziehungsweise Experimente von glaubhaft neu
arrangierten Wahrheiten.
Surrealistische Fotografie
Märchen, Sage, Poesie und Fantasy
drängen sich als Schlagworte auf: denn wie dort handelt es sich in
Jerry Uelsmanns Werken auch um gesammelte, überlieferte und
glaubhaft arrangierte Wahrheiten - denn schließlich beruht alles auf
seinen Aufnahmen/Fotos der Wirklichkeit, der real existierenden Welt.
Was alles noch glaubhafter macht ist
diese technische Präzision mit der Bruchstücke des Realen
ineinander verwachsen oder wie selbstverständlich da sind. Uelsmanns
feine Abstimmung in Grau und Schwarz, in fließende Übergänge und
Schattenwürfe, die vorher nicht da waren oder wenn, dann nicht in
dieser Intensität. Alles wächst ineinander oder überlagert sich so
glaubhaft, dass unser Auge einer perfekten Täuschung unterliegt.
Jerry N. Uelsmann steht mit seinen
Werken ganz in der Tradition der Pioniere der Surrealistischen
Fotografie der Avantgard-Fotografen und Maler. Wie diese, so ist auch
Uelsmann schon immer davon überzeugt gewesen, dass unser Gehirn mehr
wahrnimmt als unsere Augen sehen. In seinen Werken ist daher, wie im
menschlichen Gehirn, alles möglich. Motive wie Wasserfälle,
Bilderrahmen, Tische, Bäume, Augäpfel und menschliche Körper
können sich vereinen, überlagern und schließlich sogar ergänzen.
Vor unseren Augen entstehen
Traumwelten. Das motivische Vokabular Uelsmann's zeigt Parallelen zu
den europäischen Surrealisten der 20er und 30er Jahre wie Max Ernst
(1891-1976) oder Man Ray (1890-1976) – Symbole wie Lippen, Augen,
Uhren oder Hände erhalten eine neue, sinnfremde Bedeutung.
Aber Jerry N. Uelsmann ist nicht
einfach Surrealist, sondern er 'sympathisiert mit deren
Vokabular'. Er lässt seine Motive
schweben oder gar in den Himmel fliegen. Seine Geschichten gehen in
die Tiefe und lassen Wahrnehmung, Realität und Traum verschmelzen.
Alles scheint Durchlässig – Vordergrund und Hintergrund verlieren
an Bedeutung. Verwandlung, Wechsel, Zeit und Raum werden dehnbare
Begriffe.
Oder wie André Breton in seinem
"Manifest des Surrealismus" (1924) schrieb: das die Tiefe
der Wahrnehmung, im räumlichen Sinne, den Traum in Rechnung stellen
müsse.
Das Labor als Künstleratelier
Der Fotokünstler Uelsmann verändert
die Fotografie mit den Mitteln gängiger Labortechnologien, die er
für seine Zwecke neu entdeckt. Mit seiner Experimentellen
Bildbearbeitungs-Technik nimmt er bereits vor 55 Jahren nimmt er die
Möglichkeiten der Digitalen Fotografie und Bildbearbeitung vorweg.
Die Sandwich-Methode: Erstens
begann der Fotograf im Jahr 1959 mit der Sandwich-Methode. Das begann
eines Tages, als er in der Dunkelkammer stand und auf einmal begriff,
wie das Negativ funktionierte:
er sah nicht nur schwarz und weiß,
sondern schwarz und klar – wobei die schwarzen Flächen, das Licht
blockierten und die klaren Areale es passieren ließen. Im fertigen
Foto werden die schwarzen Flächen weiß und die klaren schwarz. –
Dieser Aha-Effekt sollte sein Künstlerleben prägen. – Das
Experiment begann: Zwei oder auch mehr Negative wurden sandwichartig
übereinander gelegt und ließen einander durchscheinen, wobei die
schwarzen Bereiche des einen Negativs die klaren des anderen
blockierten, im Gegenzug ließen die klaren Flächen alle anderen
Motive passieren.
Additive Methode: Als nächstes
begann er die Negative additiv, das heißt ergänzend anzuordnen:
hierbei wurde das Fotopapier nacheinander mit den unterschiedlichen
Bereichen der verschiedenen Negative belichtet. Mehrere Negative
wurden in einzelnen Details nacheinander zu einem Foto.
Effekte durch Fotopapier: Und
schließlich kam es auch auf die Auswahl des Fotopapiers
(Silverprints, metallenes Fotopapier, farbiges Fotopapier) an: allein
seine Vielfalt kann zu unterschiedlichen Effekten führen.
Zusätzliche Effekte erzeugte Uelsmann durch die Länge der
Entwicklungs- oder der Belichtungszeiten.
Fotovisionen und neue Realitäten
Jerry Uelsmanns Fotovisionen sind nicht
zu benennen, denn, so der Künstler „wie soll ich etwas benennen,
das es in der Realität so nicht gibt?“
Jerry N. Uelsmann fotografiert in den
Staaten, genauso, wie in Europa (Deutschland, Italien) in Irland und
im asiatischen Sprachraum (von Korea bis China). Wobei ihn stets das
Ungewöhnliche Motiv reizt. Aber dann im Labor, dem Atelier dieses
Künstlers beginnt der Schaffensprozess. Denn alles, was danach kommt
ist „harte Arbeit“, so Uelsmann und er fügt hinzu „'Der Zufall
trifft nur den vorbereiteten Geist', wie Louis Pasteurs zur Arbeit
des Wissenschaftlers einmal sagte“.
In seinen Arbeiten widerlegt er
eindrucksvoll, das die Fotografie immer die Realität spiegelt.
Allein die Auswahl des Motivs durch den Fotografen zeigt nur einen
Moment der Wirklichkeit. Dabei können die Art der Kamera, das Licht
und die rein Subjektive Sicht dessen, der den Auslöser drückt
bereits neue Wahrheiten schaffen.
Seit 55 Jahren experimentiert der nun 80-jährige Fotokünstler Jerry Uelsmann mit seinen Materialien, den Negativen, im Fotolabor.
Das Foto steht nur am Anfang des
künstlerischen Prozesses. Er sichtet Kontaktabzüge und wählt
Ausschnitte. Arrangiert bis zu sieben Negative in Schichten, deckt
Bereiche mit Schwarzkarton ab und experimentiert oft Stunden lang.
Zwei bis drei Tage pro Woche verbringt er in der Dunkelkammer. Eine
Arbeit kann in sechs Stunden oder sechs Tagen entstehen. Teilweise
arbeitet er mit bis zu sieben Negativen. Am Ende werden viele
Arbeiten verworfen und vernichtet. Es sind nur die besten Unikate,
die seinen künstlerischen Ansprüchen standhalten. Jedes Foto eine
neue Realität, unbenennbar, da so nicht existierend und ein
eindrucksvolles, poetisches Zitat, der surrealistischen Fotografie.
Das Foto als Grundlage des Foto-Surrealismus
Grundlage sind seine Fotografien, alle
in Schwarz-Weiß. Es gibt bestimmte Motive, die ihn Reizen. Bei der
Pirsch auf neue Motive geht Jerry Uelsmann nach eigener Aussage nicht
gezielt vor. „Ich lass mich gerne überraschen.“ Manche Motive
lassen vor seinem Inneren Auge bereits Visionen von Bildkombinationen
entstehen, die hinterher im Labor doch wieder ganz andere Ergebnisse
hervorbringen.
Sicherlich sind auch hier
Sehgewohnheiten und der jahrzehntelange Blick durch den Sucher
geprägt. Denn betrachten wir die fertigen Arbeiten, so müssten
bereits die Vorlagen eine gewisse poetische Bildsprache in sich
getragen haben.
Eine sehenswerte Uelsmann-Ausstellung mit Werken von 1972 bis heute ist derzeit in der Galerie Stephen Hoffman in München zu sehen:
JERRY N. UELSMANN
“55 Jahre in der Dunkelkammer” / “55 years in the darkroom”
Galerie Stephen Hoffman , Prannerstrasse 5, (Rückseite Hotel Bayerischer Hof), 80333 München
Dauer der Ausstellung: noch bis zum 11. Oktober 2014 (Di-Fr 11-18 • Sa 11-14).
“55 Jahre in der Dunkelkammer” / “55 years in the darkroom”
Galerie Stephen Hoffman , Prannerstrasse 5, (Rückseite Hotel Bayerischer Hof), 80333 München
Dauer der Ausstellung: noch bis zum 11. Oktober 2014 (Di-Fr 11-18 • Sa 11-14).
Kameras, Material und Arbeitsgerät
„Mamiya 7“ (zurzeit)
„Bronica“
„Brooks-Veriwide“
„Plaubel-Makina“
Filme
6 x7 bzw. 6 x 9 Mittelformat Rollfilm
Film: Kodak T-Max 100
Labor
Mehrere Vergrößerer mit verschiedenen
Kontrast-Köpfen
Entwickler
div. Foto-Papiere
Der Künstler Jerry N. Uelsmann
geboren am 11. Juni 1934 in Detroit
1953 Studium der Fotografie am
Rochester Institut of Technology
seit 1966 Professor an d. University of
Florida
Seine Werke finden sich in Sammlungen
und Museen in den U.S.A., Japan, Schweden, Frankreich und
Australien.
Literatur
- Uelsmann Untitled. A Retrospectiv, Gainsvill, Florida, University Press of Florida, 2014
- Dances with Negatives, Carmel, CA; The Center for Photographic Art, 2011
- Synchronistic Moments,Brescia, Italy: Paci Arte, 2011
- Moth and Bonelight, South Dennis, MA: 21st Editions, 2011
- The Mind’s Eye,San Francisco, CA: Modernbook Editions, 2010
- Whispers of Blended Shadows: The Art of Jerry Uelsmann, Taipei, Taiwan: Taipei Fine Arts Museum, 2008
- The Photography of Jerry Uelsmann, Beijing, China: See+Gallery, 2008
- Meditation Navigation: Jerry Uelsmann, 1961–2006, Venice, Italy: Marsilio, 2007
- Maggie and Jerry: The Works of Jerry Uelsmann and Maggie Taylor, Seoul, Korea: Museum of Photography, 2007
- Imaginary Space: Jerry Uelsmann Retrospective, Beijing: China, Photographic Publishing House, 2007
- Just Suppose: Photographs by Jerry Uelsmann and Maggie Taylor, Gainesville, FL: University Galleries at the University of Florida, 2007
- Outside In: The Transformative Vision of Jerry Uelsmann. Dir. Daniel Reeves. DVD. Winter Park, FL: Shakti Multimedia, 2006
- Other Realities, New York, NY: Bullfinch Press, 2005
- Referencing Art, Tucson, AZ: Nazraeli Press, 2003
- Approaching the Shadow, Tucson, AZ: Nazraeli Press, 2000
- Museum Studies, Tucson, AZ: Nazraeli Press, 1999
- Uelsmann/Yosemite, Gainesville, FL: University Press of Florida, 1996
- Jerry Uelsmann: Photo Synthesis, Gainesville, FL: University Press of Florida, 1992
- Uelsmann: Process and Perception, Gainesville, FL: University Press of Florida, 1985
- Jerry N. Uelsmann—Twenty-five Years: A Retrospective, Boston, MA: New York Graphic Society, 1982
- Jerry N. Uelsmann: Photographs from 1975–79, Chicago, IL: Columbia College, 1980
- Silver Meditations, Dobbs Ferry, N.Y.: Morgan & Morgan, 1975
- Eight Photographs: Jerry Uelsmann, New York, NY: Doubleday & Co., 1970
- Jerry N. Uelsmann, Millerton, N.Y.: Aperture, 1970
- The Criticism of Photography As Art: The Photographs of Jerry Uelsmann, Gainesville, FL: University Press of Florida, 1970